Sagen und Geschichten

Rixt vom Oerd

 

Vor langer, langer Zeit wohnte einst in einem einsamen, entlegenen Winkel vom Oerd eine alte Fischerwitwe mit ihrem Sohn. Sie war bereits in grauer Vergangenheit nach Ameland gekommen und hatte sich in einer dürftigen Hütte, weit von der bewohnten Welt entfernt, niedergelassen. Viel hatte sie scheinbar nicht nötig für ihren Lebensunterhalt, denn die Amelander sahen sie niemals im Dorfe. Mutter und Sohn mussten sich mit der Milch von ihrer einzigen Kuh, die sie besaßen, begnügen und ferner lebten sie von dem, was die Natur zu bieten hatte

 

Und dann war natürlich noch allerlei am Strand zu finden, denn in jenen alten Zeiten strandeten immer einige Schiffe vor der Amelander Küste. So wurde sie manchmal gesehen: klein, mager und krumm gebogen, mit ihrer ungeheuerlichen Hakennase beinahe den Boden berührend, am Strand entlang des Flutsaumes suchend nach allem, was sie nur gebrauchen konnte. Rixt -so hieß sie nämlich- hatte an ihrem Sohn Sjoerd eine gute Stütze. Im Frühjahr suchte er Möweneier, die an diesem ungastlichen Ort im Überfluss zu finden waren, und das ganze Jahr hindurch fielen seiner Wilderershand zahllose Wildkaninchen zum Opfer. Als Sjoerd jedoch erwachsen geworden war, konnte er dem Ruf der See nicht länger widerstehen. Er verließ die kleine Hütte und Ameland und ging zur See.

 

Lange Zeit hielt sich Rixt vom Oerd allein über Wasser. Noch immer wollte sie mit keinem etwas zu tun haben; niemand kümmerte sich übrigens um sie. Das dauerte so lange, bis eine große Zeitspanne anbrach, in der für sie auf dem Strand nichts zu holen war. Kein Schiff strandete; nichts wertvolles spülte am Strand an. In ihrer kleinen Hütte auf dem Oerd brütete Rixt einen teuflischen Plan aus. Diesen setzte sie in die tat um, als in einer stockfinsteren Nacht der Sturmwind um die Insel heulte und ein Schiff vor der Ameländer Küste in Not war. Rixt band ihrer Kuh eine brennende Sturmlaterne zwischen die Hörner und jagte das Tier auf die höchste Oerder Düne. Ihre List hatte Erfolg. Der Steuermann vom Schiff vermutete an der Stelle, wo das Lampenlicht aufflackerte, einen sicheren Hafen und nahm Kurs auf den Vertrauens erweckenden Lampenschein.

 

Die Folgen waren katastrophal. Das Schiff lief rettungslos auf eine Sandbank vor der Küste, kenterte und zerbrach in der wüsten Brandung; die gesamte Besatzung ertrank. Noch bevor der Morgen dämmerte, war Rixt am Strand, um zu sehen, ob für sie etwas zu holen war. Das erste was sie gewahr wurde, war der leblose Körper ihres eigenen Sohnes Sjoerd, den sie mit ihren teuflischen Absichten in den Tod getrieben hatte. Die herzzerreißenden Schreie von Rixt waren kilometerweit zu hören und übertönten die tosende Brandung.

 

Und noch stets, wenn der Sturmwind über Ameland rast, irrt Rixt auf dem Oerd umher und hört man ihre klagende Stimme, die immer wieder "Schu-u-u-urd" ruft.

Die besondere Messe

In Nes auf Ameland wohnte einst eine alte Frau, die jeden Morgen treu zur Messe ging. Eines Morgens wurde sie plötzlich wach, während sie das Kirchenglöckchen bereits läuten hörte. Sie horchte noch einmal genau, ob sie es sich vielleicht einbildete, es war aber wirklich so. Sie kleidete sich an so schnell wie sie konnte, schlug ihren Umhang um und hastete sich zur Kirche. Dort traf sie jedoch keine lebende Seele.


Trotzdem war die Kirchentür geöffnet, spielte die Orgel und brannten die Kerzen. Sie kniete nieder und betete, als sie auf einmal Geräusche hinter sich hörte. Zu ihrem Entsetzen erkannte die alte Frau nur Inselbewohner, die schon längst tot waren, sogar ihr Nachbar war dabei, der vor kurzem erst verschieden war. Er nahm gleich hinter ihr Platz. Ängstlich drehte sie sich um und fragte ihren Nachbarn, was dies alles zu bedeuten habe.

 

"Nachbarin", sagte er, "Sie dürfen hier eigentlich nicht sein. Dies ist eine Messe für uns, die gestorben sind. Wenn die Messe zu Ende ist, müssen Sie warten, bis wir alle verschwunden sind. Erst dann dürfen Sie die Kirche verlassen. Aber hüten Sie sich, Ihren Umhang festzumachen, sonst sieht es böse für Sie aus." Die Messe fing an und wurde von einem Priester dargebracht, der schon vor geraumer Zeit verstorben war.

Die alte Frau saß zitternd auf Ihrem Stuhl und traute sich nicht aufzustehen. Als die Messe zu Ende war, hörte sie schlurfende Füße von Menschen, die die Kirche verließen.

Sobald das Geräusch verstummte, beeilte sie sich, nach draußen zu kommen. Kaum war sie jedoch über die Schwelle gegangen, da schlug die Kirchentür hinter ihr mit einem lauten Knall zu; dabei blieb ein Zipfel ihres Umhanges an der Tür hängen. Hätte sie ihren Umhang festgemacht, dann wäre sie zweifelsohne mit dem Kopf gegen die Tür geschlagen und das hätte ihr Tod sein können. Die Warnung ihres verstorbenen Nachbarn hatte sie gerettet!

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